Barrierefreie Bürokratie

BerndWeede/ Februar 12, 2023/ Barrierefreiheit, Inklusion

Es gibt Tage an denen könnte man verzweifeln, entweder am eigenen Verstand oder der Intelligenz des Systems. So ein Tag war gestern für mich. Seit einigen Wochen lebt Ein Verwandter, Namen sind Schall und Rauch, bei uns. Nach einem Sturzereignis musste er in ein Krankenhaus eingeliefert werden und danach in eine Tageseinrichtung. Der tut sich zwar immer noch schwer, ist aber auf gutem Weg in einigen Wochen zurück in sein heimisches Umfeld zu kommen. Wenn auch unter strenger Aufsicht und Betreuung.

Aus Umständen, die ich hier nicht näher erläutern werde, sind ihm annähernd alle Unterlagen über sein Leben verlustig gegangen. Hier beginnt nun die Irrfahrt ohne erkennbaren Ausweg. Um irgendetwas in die Wege leiten zu können bräuchte der Verwandte einen Personalausweis oder Pass. Da er diesen nicht hat bleibt der Weg zur Behörde. Ein Termin beim Bürgerservice St. Augustin ist schnell gebucht. Im Kleingedruckten findet sich aber schon das Problem. Man braucht den alten Ausweis, Pass oder eine Geburtsurkunde.

Ein Telefonat mit der Behörde endete damit, dass, nachdem ich mein ich mein Dilemma geschildert hatte, die Dame meinte „Bringen Sie mal mit, was sie haben, dann schauen wir mal.“

Die Anreise zu dem gebuchten Termin verlief ausgesprochen schwierig. Wegen einer Baustelle ist der Zugang zum Bürgeramt alles andere als barrierefrei und leider auch alles andere als gut ausgeschildert. Das hatte die nette Kollegin am Telefon nicht erwähnt. Auch die Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln gestaltete sich ausgesprochen unangenehm, weil die Busfahrer sich wenig gemüßigt fühlten und beim Ein- und Aussteigen zu helfen. So wurde dann jedes Ein- und Aussteigen zum Kraftakt. Zusammenfassend, mein Verwandter hätte die Reise nicht selbständig machen können und selbst für mich als Begleitperson war es ein Gewaltakt.

Im Rathaus angekommen zeigten sich schon die nächsten Schwierigkeiten, der Fotoapparat ist in einem kleinen Seitenraum versteckt und erst nach mehreren Nachfragen gefunden werden konnte. Leider ist der Raum mit einem Rollstuhl kaum zu befahren. Würde aber auch nichts nützen, denn der Apparat weigert sich, mit einem Rollstuhlfahrer auf Augenhöhe zu gehen. Also wieder raus und mit viel Mühe auf Krücken wieder rein. Aber wie soll man auf einem Pad unterschreiben, wenn man sich an zwei Krücken festhalten muss? Das entzieht sich jeder logischen und praktischen Überlegung, muss aber irgendwie gemacht werden.

Über diese Irrfahrt sind wir jetzt schon 5 oder 10 Minuten zu spät und wir sind schon aus dem System gefallen. Trotzdem nimmt sich die nette Mitarbeiterin unserem Verlangen an. Leider auch erfolglos, denn die Hoffnung, die die Mitarbeiterin, mit der ich telefoniert hatte, schürte, verrauchte genauso schnell ohne Geburtsurkunde wieder. Ohne eine Geburtsurkunde oder den alten Ausweis könne man uns nicht weiterhelfen. Das Problem, das sich nun stellte, ist allerdings das Ende aller logischen Planungsmöglichkeiten:

Das Familienportal NRW beschreibt den Weg zu einer Geburtsurkunde so:

Persönliche Beantragung:

Für eine persönliche Beantragung kann ein Termin erforderlich sein. Sie müssen Ihren Personalausweis oder Reisepass vorlegen.

Die Gebühr zahlen Sie direkt bei der Beantragung im Standesamt.

Außer Ihnen selbst darf auch eine Person Ihres Vertrauens die Urkunde für Sie bestellen und abholen. Sie legt dazu neben einer schriftlichen Vollmacht Ihren Personalausweis oder Reisepass (original oder beglaubigte Kopie) sowie den eigenen Personalausweis oder Reisepass vor.

Beantragung per Post:

Richten Sie ein formloses Schreiben an das zuständige Standesamt mit der Bitte, Ihnen eine Geburtsurkunde auszufertigen.

Ihr Schreiben sollte folgende Angaben enthalten:

  • (…)
  • Legen Sie dem Schreiben eine beglaubigte Kopie Ihres Personalausweises oder Reisepasses bei.

Legen Sie dem Schreiben eine beglaubigte Kopie Ihres Personalausweises oder Reisepasses bei.[1]

Kurz zusammengefasst, ohne Geburtsurkunde keinen Ausweis, ohne Ausweis keine Geburtsurkunde. (Behördenlogik)

Nächster Gang Kreissparkasse. Die Barrierefreiheit der Verkehrsmittel und die Hilfsbereitschaft der Busfahrer haben sich nicht gebessert.

Unter Aufbringung allen Charmes können wir die Kundenbetreuerin dazu bewegen, die gesperrten PIN für die Bankkarte wieder zu aktivieren, auch ohne Ausweis, nur mit der Gesundheitskarte, dem Behindertenausweis und unter Vorlage der Bankkarte. Die Sperrung geht auf meine Kappe ich habe im Stress die Nummer drei Mal falsch eingegeben.

Die Sache mit den Auszügen ging dann schon schief, denn diese sollten per Post zugesandt worden sein, sind aber – vielleicht wegen des Poststreiks – dort nicht angekommen. Aber davon später. Der Versuch mit der Karte Geld zu ziehen, ging schief, zwar weist das Konto die Deckung auf, aber eine höhere Überweisung, die die Deckung aufbrauchen würde, kann nicht ausgeführt werden, ehe dafür eine Deckung da ist. Vermutlich geht die Überweisung dann dieser Tage zu Protest und das Guthaben wird wieder frei.

Um die Auszüge zu holen, ging es danach zu meinem Verwandten nachhause. An den Bedingungen des ÖPNV hat sich immer noch nichts geändert. Die Auszüge waren nicht im Briefkasten und so ging es unverrichteter Dinge mit einem behindertenunfreundlichen Nahverkehr, mit einem ausgetüftelten Plan an welchen Haltestellen man einigermaßen barrierefrei umsteigen kann,  wieder zu uns, wo mein Verwandter zurzeit gut untergebracht ist, Speise, Trank und Unterkunft hat und leicht zur Tagesklinik kommt.

Bert Brecht scheint recht zu haben:

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.

Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, 1940/41[2]

Allerdings wurde ich an diesem Abend aus meiner eigenen Verzweiflung, Wut und tiefen Enttäuschung geheilt. Wieviel besser geht es mir, mit all den Problemen, dem Muskelkater von Schieben und Hieven, gegenüber den Menschen im syrisch/türkischen Grenzgebiet. Wir haben zwar keinen Pass, aber wir leben und haben ein Zuhause. Mein Verwandter kommt zwar nicht an Geld, wird aber nicht neben Krieg, Korruption, Rassismus und Willkür auch noch Opfer eines Erdbebens. Das stimmt mich milde und demütig.

Aber es löst mein Problem nicht!


[1] https://familienportal.nrw/geburtsurkunde letzte Abfrage 07.02.2023

[2] https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Themen/pass.html letzte Abfrage 07.02.2023

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